Mapa-Plzen

Stadtplan von Pilsen aus dem Jahr 1881. Die roten Punkte auf der Karte markieren das Haus der Familie Baum (A), das Haus an der Ecke Prešovská-Straße und Smetana-Straße, Pilsen (B), wo die Familie Baum wahrscheinlich ab 1897 wohnte und wo Baums Vater ein Geschäft betrieb (B), und das Deutsche Gymnasium (C), wo Baum studierte.

Der junge Baum und die Stadt Pilsen


Oskar Baum wurde am 21. Januar 1883 in Pilsen geboren. Damals wohnte seine Familie im Haus mit der Nummer 132 am heutigen Platz der Republik (Náměstí Republiky). Über seine Geburt und Kindheit in Pilsen äußerte sich Baum wie folgt:

Als ich mitten im Winter geboren wurde – hatte mein Vater ein Stoffladen in Pilsen an einem schönen, großen Platz gegenüber der Kirche. Ganz nach meinem Vorbild, Fried Ellmann, dem Sohn eines Buchhändlers aus der „kleinen František-Straße“, wäre ich in der ersten Klasse des Gymnasiums durchgefallen, als ich an einem schönen Julitag durch ein paar Raufbolde mein Augenlicht verlor
 (Zitiert aus Pick 1927: 171).

Es war eine Zeit des raschen Wandels. Pilsen entwickelte sich zu einem bedeutenden Industriezentrum, das ein breites Spektrum an Arbeitsmöglichkeiten bot, und die Menschen aus dem Land zogen nach Pilsen, um Arbeit zu finden. Ermöglicht wurde dies vor allem durch die Abschaffung der Leibeigenschaft im Jahr 1848, die eine größere Mobilität der Bevölkerung in der damaligen österreichischen Monarchie ermöglichte, einschließlich der Migration vom Land in die Städte. Im Jahr 1850 hatte Pilsen noch 10392 Einwohner, aber 1880, drei Jahre vor der Geburt von Oskar Baum, hatte Pilsen bereits fast 40.000 Einwohner (Schiebl 1911).

Der demografische Wandel der Bevölkerung von Pilsen betraf daher auch die jüdische Bevölkerung. Juden tauchten in Pilsen an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert auf, als es ihnen erlaubt wurde, sich dort niederzulassen, wenn sie in irgendeiner Form im Handel tätig waren. Dank der zunehmenden Industrialisierung und Entwicklung der Stadt zog Pilsen immer mehr Einwanderer an. Noch 1820, als sechs jüdische Familien in Pilsen ankamen, protestierten die Einwohner von Pilsen gegen ihre Ankunft. Im Jahr 1853 wurde jedoch eine jüdische Gemeinde mit 41 Familien wiedergegründet, und es wurde die Genehmigung zum Bau einer Synagoge und einer Schule erteilt (Bernhardt 2016: 123; Krčmář 2016: 284). 1880 gab es in Pilsen bereits 2.251 jüdische Einwohner, von denen die meisten Deutsch sprachen (Schiebl 1911).

Inzerat

Wenn Oskar Baums Vater Hilfe suchte oder Anzeigen für sein Geschäft aufgab, veröffentlichte er Anzeigen in jüdischen deutschsprachigen Zeitungen.


Die Anzeige von Baums Vater Jakob im Prager Tagblatt vom 3. Dezember 1893. Sieben Monate später verliert Oskar Baum sein Augenlicht.

Die Zahl der Einwohner jüdischer Herkunft in Pilsen veranlasste die unzufriedenen Kritiker jener Zeit zu der Bemerkung, dass „also für Pilsen die Begriffe Jude und Deutscher fast identisch sind“ (Hubka 1899: 29). In den Ämtern, Schulen und kulturellen Einrichtungen wurde Deutsch gesprochen. Noch in den 1870er Jahren war Deutsch die Amtssprache im Rathaus, und man konnte sich vor allem aus deutschen Zeitungen informieren. Tschechischsprachige Zeitungen gab es zu dieser Zeit in Pilsen praktisch nicht. Man kann sagen, dass für die damalige Bevölkerung die Zugehörigkeit zur Gemeinde, d.h. zu Pilsen, wichtiger war als die Nationalität.

Diese Missachtung der Bedeutung der Nationalität, die in der Verfassung von 1848 garantiert wurde, stellte für die damaligen nationalen Volksaufklärer ein Problem dar. Die Zwiespältigkeit dieser Zeit ist in dem ausführlichen Brief von Hugo Karlík sehr gut eingefangen. Darin beschreibt er zunächst den Wandel der Stadt:

Wenn Sie aber einmal dieses Pilsen sehen, das für sein miserables Bayerisch berühmt ist, werden Sie es in mancher Hinsicht nicht wiedererkennen. Die alten Stadtmauern, die die Metzgereien bedeckten, sind verschwunden, eine neue Mauer wird dort errichtet; eine neue Brauerei wird bei der Herrenmühle gebaut, ein Zwinger wird bei den Franziskanern zugeschüttet, und es gibt dort schöne Obstgärten; die Franziskanerstraße wird geebnet, die Stirnseite der Franziskaner wird umgebaut und versetzt, um die Reihe einheitlich zu gestalten, alles schön und geschmackvoll. Unser Kirchlein ist getüncht, der Altar soll neu verziert werden, die Allerheiligenkirche ist außen und innen rekonstruiert und restauriert worden; die bei der Kaserne stehenden Häuser sind abgerissen worden, so dass dieses unansehnliche Gebäude einfach allein dasteht, und nicht weit hinter Stelcro's Gasthof ist eine neue Dampfmühle gebaut worden, mit einem Wort, Pilsen ist wirklich ein neues Pilsen. (zitiert aus Volf 1934: 2-3).

Und in dem unten stehenden Brief beklagt er sich über die Engstirnigkeit der Pilsener, die für ihn gleichbedeutend mit Deutschen sind, und stellt sie den armen tschechischen Bewohnern von Pilsen gegenüber.

Sie kennen die Pilsener mit ihren leeren und überheblichen Köpfen, die nichts anderes wollen als Bier und Geiz, um sich mit dem Blut und Bierbauch anderer dick zu werden, und ich sage nichts von jener hässlichen Rückständigkeit, die mit hochmütigen und gerunzelten Brauen auf uns arme tschechische Spießer herabschaut, und bei all ihrer Unhöflichkeit und Dumpfheit, ich weiß nicht, wie gebildet und gelehrt sie sich halten.(zitiert aus Volf 1934: 4).

Noch in den 1860er Jahren war die Nationalität für die Einwohner Pilsens eher eine Frage der Wahl als des Schicksals. Es war möglich, Nachkommen deutschsprachiger Familien zu finden, die sich zur tschechischen Nationalität bekannten, während sich Mitglieder eindeutig tschechischer Familien (z. B. František Pankraz, Emil Škoda oder František Hýra) zur deutschen Nationalität bekannten. Seit den 1870er Jahren kann man bereits von ethnisch geteilter Pilsen sprechen. Dies wird sehr gut durch die Daten der Volkszählung von 1890 gezeigt. Sie zeigen, dass deutschsprachige Einwohner vor allem in der Innenstadt (1.370 deutschsprachige Einwohner) und in der Reichsvorstadt (4.175 deutschsprachige Einwohner) anzutreffen waren, während die Arbeiterstadtteile wie die Sächsische Vorstadt (7.803 tschechischsprachige Einwohner) oder die Prager Vorstadt (10.534 tschechischsprachige Einwohner) überwiegend tschechisch geprägt waren (Schiebl 1911).

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Das Deutsche Gymnasium auf einer zeitgenössischen Fotografie von J. Böttinger aus dem Jahr 1872 (Quelle: Stadtarchiv Pilsen).

Die Politisierung der nationalen Frage zeigte sich am deutlichsten im Bildungswesen. Zunächst wurde versucht, das damalige Pilsner Gymnasium (heute das Hauptgebäude der SVKPK – „Die Wissenschaftliche Bibliothek des Kreises Pilsen (tschechisch: Studijní a vědecká knihovna Plzeňského kraje“ – Anm. d. Ü.)) zu tschechisieren, was jedoch nicht gelang, und es wurde eine Realschule gegründet, in dem ab 1866 Tschechisch als Unterrichtssprache galt. Die tschechisch-deutschen Streitigkeiten eskalierten in gegenseitiger Rivalität und Feindseligkeit (Bernhardt 2016: 118-123).

Und mittendrin standen die Juden. Die meisten von ihnen sprachen Deutsch, meist als Zeichen der Loyalität gegenüber der österreichischen Monarchie, die ihnen Religionsfreiheit garantierte. Nur eine Minderheit der Juden in Pilsen bekennt sich zur jüdischen Nationalität (Bernhardt 2016: 123; Krčmář, Schiebl 1911). Die Mehrheit identifizierte sich entweder mit der deutschen oder der tschechischen Nationalität.

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