Ringstrasse

Maxmilian Lenz, Sirk-Ecke (Ringstrasse, 1900)

Baum in Wien

Oskar Baum zog 1894 nach Wien und verbrachte dort acht Jahre in einer Zeit des raschen Wandels und des plötzlichen Bevölkerungswachstums. Zu dieser Zeit war Wien die Hauptstadt eines riesigen Reiches, das auch die böhmischen Länder Böhmen und Mähren umfasste. Im Jahr 1880 hatte die Stadt 726.000 Einwohner. Zehn Jahre später war diese Zahl dank der Einbeziehung der Vorstädte auf 1.365.000 gestiegen. Bis 1910 stieg die Einwohnerzahl der Stadt auf 2 031 000 und erreichte damit den höchsten Stand aller Zeiten.Um die Jahrhundertwende waren mehr als 20 % der Bevölkerung Einwanderer aus Böhmen und Mähren. Ungefähr zehn Prozent der Bevölkerung hatten jüdische Wurzeln (Kiss 1937).

Baum lebte im Israelitischen Blindeninstitut auf der Hohen Warte. Dieses Institut befand sich im Bezirk Döbling, im „besseren Teil“ der Stadt. Das jüdische Blindeninstitut wurde auf Anregung des Arztes und Schriftstellers Ludwig August Frankl (1810-1894) gegründet, der ein angesehenes Mitglied der Wiener jüdischen Gemeinde war. Das Institut wurde von dem Bankier Jonas Königswarter finanziert und unter anderem auch von Anselm Rothschild, Zacharias Königswarter und Friedrich Schey unterstützt. Das Gebäude des Instituts wurde von Wilhelm Stiassny (1842-1910) entworfen. Das Institut wurde mit Schlafsälen für dreißig Jungen und zwanzig Mädchen gebaut. Es umfasste Klassenzimmer, Bäder, eine Waschküche, Werkstätten und einen Braille-Drucker (Das Blinden-Institut 1873).

Seznam

Liste der Studenten der Israelitischen Blindeninstitut auf der Hohen Warte von 1895 auf der Baums Name und Pilsen als sein Herkunftsort aufgeführt sind. In Israelitisches Blinden-Institut auf der Hohen Warte bei Wien, S. 1.

Blinden-Institut

Das Israelitische Blindeninstitut auf der Hohen Warte 32 vor 1906 (Quelle: The Jewish Encyclopedia)

In dem Buch „Der Weg des blinden Bruno“ beschreibt Baum zu Beginn des zweiten Kapitels das Institut:

Das Blindeninstitut lag außerhalb der Stadt in der Nähe des Villenviertels auf einem kleinen Hügel zwischen Feldern und Wiesen und einer ländlichen Straße und machte durch seine gesunde und schöne Lage mit den großen leuchtenden goldenen Buchstaben am hohen Tor einen wirklich gemütlichen und beruhigenden Eindruck.

Das Institut war modern, was die Weiterbildungsmöglichkeiten anging. Lehrer und Verwaltungsangestellte betonten, wie wichtig es sei, dass blinde junge Menschen gängige Berufe wie Stenotypist, Jurist, Lehrer und Fremdsprachenkenntnisse erhalten.

Man kann jedes Ereignis auf zwei Arten betrachten: Laut dem Franz-Kafka-Biographen Ernst Pawel war es ein ziemlich autoritärer Ort, aber andererseits: Welche Bildungseinrichtung war es damals nicht? Und doch erhielt Baum hier seine Ausbildung. Er wurde nicht, wie viele Blinde, irgendwo „beiseite geräumt“.

Karl_Lueger

Karl Lueger

Das Institut war in vielerlei Hinsicht eine isolierte Gemeinschaft, aber die Studenten und Lehrer konnten nicht umhin, den weit verbreiteten Antisemitismus in Wien wahrzunehmen. Einer derjenigen, die dies ausnutzten, war Bürgermeister Karl Lueger, Stadtbeamter von 1897 bis 1910. Luegers Nachlass bleibt bis heute umstritten. Er modernisierte die Stadt, wurde aber durch seine antisemitische Rhetorik populär. In vielerlei Hinsicht war er der Begründer des Rechtspopulismus. Er vertrat eine Mischung aus christlichem Antisemitismus und Hass auf den modernen Liberalismus und Kapitalismus. Er machte die Juden für die unmenschlichen Aspekte des modernen Kapitalismus in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg verantwortlich (Stone 1995).

Kasimir-Badeni

Kasimir Felix Badeni

Während Baums Aufenthalt in Wien kam es sowohl in dieser Metropole als auch in Böhmen zu gewaltsamen Auseinandersetzungen im Zusammenhang mit dem Sprachenkampf. Die deutsche Sprache – in der Baum aufwuchs – galt als die Sprache der herrschenden Klasse. Im multiethnischen Österreich jener Zeit gab es jedoch viele Nationalitäten und Sprachen. In Böhmen forderte die tschechischsprachige Bevölkerung den Gebrauch ihrer eigenen Sprache. Im Jahr 1897 führte Minister Kasimir Felix Badeni (1846-1909) – Graf von Polen – eine Sprachreform ein. Nach dieser Reform sollte jeder Bürger des Königreichs Böhmen das Recht haben, im offiziellen Verkehr seine eigene Sprache zu verwenden. Dies bedeutete jedoch, dass jeder deutschsprachige Beamte innerhalb von drei Jahren eine „zweite Sprache“ erlernen musste, während tschechische Beamte von dieser Regelung kaum betroffen waren, da die meisten von ihnen standardmäßig Deutsch als „zweite Sprache“ verwendeten (Andics 1984).

Laut dem Historiker Hellmut Andics glich das Wiener Parlament einem Tollhaus – die Abgeordneten stritten und schrien (Andics 1984: 273). Die Deutschen waren wütend. In den Gebieten mit deutschsprachiger Bevölkerung demonstrierten viele Menschen, plünderten und zögerten nicht, von Waffen Gebrauch zu machen. Die Abstimmung gegen Badeni wurde abgelehnt und die Situation verschlimmerte sich noch. Badeni musste sich ein Duell liefern – mit Pistolen – er wurde verletzt, aber nicht schwer. Die Unruhen auf den Straßen Wiens und vor allem im Parlament eskalierten weiter und die Polizei musste gegen die Demonstranten einschreiten.

Die Ereignisse endeten damit, dass der Kaiser Badeni abberufen musste.

Josef Kaizl, ein tschechischer Politiker, der die damals junge tschechische Partei vertrat, erklärte:  

Ein paar Millionen Deutsche terrorisieren den Kaiser, den Staat und alle anderen nationalen Gruppen, um die künstliche ‚Präpotenz‘ der Deutschen aufrechtzuerhalten“ (Andics 1984: 274).

In diesem politischen Klima zog der junge Oskar Baum 1902 nach Prag.

© Copyright 2023 Studijní a vědecká knihovna Plzeňského kraje